Zukunftsfähigkeit von innen heraus „Die eigene Arbeitsauslastung wieder selbst steuern“

Aktualisiert am 09.02.2024 Das Gespräch führte Dipl.-Ing. (FH) Hendrik Härter 7 min Lesedauer

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Die Wettbewerbsfähigkeit beginnt mit der optimalen Nutzung der Systeme, wobei der Schwerpunkt auf dem Fertigstellen liegt, bevor man etwas Neues anfängt. Eine erfolgreiche Automobilindustrie optimiert sich selbst und ist damit langfristig marktfähig.

Wie komplexe Schaltungen: Erfolgreiche Elektronikentwickler müssen in die Lage versetzt werden, den Fokus auf das Fertigstellen zu lenken. Mit der Agilität in der Elektronikentwicklung lässt sich die eigene Arbeitsauslastung wieder selbst steuern.
Wie komplexe Schaltungen: Erfolgreiche Elektronikentwickler müssen in die Lage versetzt werden, den Fokus auf das Fertigstellen zu lenken. Mit der Agilität in der Elektronikentwicklung lässt sich die eigene Arbeitsauslastung wieder selbst steuern.
(Bild: Gerd Altmann / Pixabay)

Enge Termine und steigende Komplexität treffen auch die Elektronikentwickler und führen zu einer hohen Arbeitsbelastung. Meist geht es nicht nur um ein Projekt, sondern um mehrere, die möglichst gleichzeitig vorangetrieben werden müssen. In diesem Umfeld stehen nicht nur schnell ganze Projekte auf der Kippe, den Beteiligten fehlt auch der Systemüberblick, um sich gezielt vor Überlastung zu schützen.

Herr Biebl, Elektronikentwickler müssen liefern! Was bedeutet das genau?

Liefern bedeutet, für den Kunden einen Wert zu schaffen. Also ein Produkt liefern, eine Dienstleistung erbringen oder den Kunden mit Wissen und Erfahrung weiterbringen. Das ist das oberste Ziel eines Unternehmens und seiner Mitarbeitenden.

Die Arbeitsbelastung in den Entwicklungsabteilungen nimmt zu. Für eine saubere Produktentwicklung bleibt kaum noch Zeit. Wo ist der Zusammenhang zum Liefern?

Fabian Biebl: „Die Arbeitsabläufe in den Unternehmen und die Technik werden komplexer und bedürfen viel Aufmerksamkeit. Deshalb gerät die eigentliche Fertigstellung und Lieferung eines Produktes schnell aus dem Blick.“
Fabian Biebl: „Die Arbeitsabläufe in den Unternehmen und die Technik werden komplexer und bedürfen viel Aufmerksamkeit. Deshalb gerät die eigentliche Fertigstellung und Lieferung eines Produktes schnell aus dem Blick.“
(Bild: Colenet)

Die Arbeitsabläufe in den Unternehmen und die Technik werden komplexer und bedürfen viel Aufmerksamkeit. Deshalb gerät die eigentliche Fertigstellung und Lieferung eines Produktes schnell aus dem Blick. So optimieren sich beispielsweise Abteilungen (Silos) oft selbst, ohne die Fertigstellung des Produktes aus Kundensicht zu betrachten. Während aus Sicht des Vertriebs gleichzeitig noch weitere Projekte begonnen werden sollen, klagen Entwickler über die damit verbundene gleichzeitige Auslastung mit zu vielen Themen. Das Management kann meist nur über den Grad der Auslastung beurteilen, ob die Mitarbeitenden richtig eingesetzt sind.

Das klingt nach viel Stress und Konflikten innerhalb der Entwicklung?

Ja, denn Mitarbeitende und Unternehmen verfolgen aus dem Bauch heraus andere Strategien. Mitarbeitende würden lieber nur eine Sache anfangen und diese komplett fertigstellen. Auf der anderen Seite drücken viele Kundenaufträge gleich mehrere Projekte gleichzeitig in die Entwicklung. Die Frage, ob das Beginnen von etwas Neuem oder das Fertigstellen von etwas Begonnenem im Vordergrund stehen soll, kann mangels Systemübersicht selten intuitiv beantwortet werden.

Keine gemeinsame Lösungsstrategie von Belegschaft und Management?

Die Mitarbeitenden sind frustriert, da sie spüren, dass ein Projekt schneller fertig zu bekommen wäre, wenn sie sich darauf konzentrieren würden. Sie können das aber nicht belegen. Stattdessen laufen aufgrund von Kundendruck doch wieder mehrere Projekte gleichzeitig.

Ich kenne viele Entwickler, die in fünf oder mehr Projekten gleichzeitig stecken. Irgendwann verbringen sie mehr Zeit damit, sich ständig neu einzuarbeiten, als die eigentliche Entwicklung voranzutreiben. Schlimmer noch, im Extremfall werden sie, wenn sie diese Probleme anführen, vom Management als faul abgestempelt.

Der Gesprächspartner

Fabian Biebl ist Mitbegründer der „Initiative Zukunftsfähigkeit“ und ist ein erfahrener Organisationsentwickler. Seit über zehn Jahren begleitet er agile Transformationen in Konzernen und mittelständischen Unternehmen. Seine Kunden reichen von BMW, Allianz und Infineon bis hin zu Handwerksbetrieben. Mit der von ihm gegründeten „Initiative Zukunftsfähigkeit“ soll das Problem der Lieferfähigkeit für Unternehmen und Mitarbeitende lösbar werden.

Warum fällt das den Firmen so schwer?

Meist fehlt der systemische Blick, also die Transparenz über die Arbeitsprozesse. In Zeiten der Komplexität stochern wir im Nebel und mangels Durchblick kommt es zu Entscheidungen aus dem Bauch. Ich helfe Kunden wie beispielsweise Infineon, ihre Lieferfähigkeit zu verbessern, indem ich diese Komplexität beherrschbar mache.

Firmen kämpfen also mit zunehmender Komplexität. Entscheidungen treffen fällt zunehmend schwerer. Wie lässt sich der Interessenkonflikt beseitigen?

Bevor man sich in große Veränderungen stürzt, sollte man das Vorhandene sichtbar und messbar machen. Kanban ist mit seinen Boards ein guter Ansatz. Es erfordert zunächst keine Veränderungen in der Organisation, aber der Wertschöpfungsprozess und seine Engpässe werden sichtbar.

Es bringt zudem viele Kennzahlen mit, über die sich der Gesundheitszustand des Systems messen lässt. Ich mag zum Beispiel die LeadTime. Das ist die Zeit von der Auftragsannahme bis zur Auslieferung an den Kunden.

Könnten so die Interessen des Managements und der Entwicklungsabteilung besser zusammengeführt werden?

Die Frage, wie viele Projekte gleichzeitig laufen sollen, kann mit Kennzahlen wie der LeadTime beantwortet werden. Dies geschieht iterativ über das Setzen von Arbeitslimitierungen (work in progress limits) und Messung der Auswirkung der Änderung auf die Lead Time. Damit werden die Probleme von zu viel oder zu wenig Projekten gleichzeitig messbar und besprechbar – Management und Mitarbeitende können im Dialog herausfinden, wo die optimale Auslastung liegt. Optimierung wird so von einer Gefühlssache zu einem Werkzeug.

Wie wird das in der Praxis eingeführt?

Ich möchte ein Beispiel geben, wie wir das in einer Schlosserei gelöst haben. Das Beispiel ist viel einfacher als das, was wir in den meisten Unternehmen haben werden, aber selbst dort gibt es schon eine gewisse Komplexität, die wir in mittleren und großen Unternehmen finden.

Das Problem im Handwerk ist, dass sehr viele Aufträge hereinkommen. Der Meister will die Kunden nicht verlieren, deshalb werden möglichst viele Aufträge angenommen, aber dann ertrinkt der Betrieb in Besichtigungen, Aufmaß, Auftragsklärung oder Fertigung. Dort haben wir zunächst mit Kanban einen Überblick über den Arbeitsfluss geschaffen. Auch dort gab es Silos, nämlich Büro und Werkstatt, die nicht optimal aufeinander abgestimmt waren. Alle waren überlastet, vor allem der Meister, und jeder Mitarbeiter konzentrierte sich nur auf seinen Bereich.

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Die Transparenz, die wir durch Kanban erreicht haben, hat den Prozess so sichtbar werden lassen, dass plötzlich alle Beteiligten gute Ideen hatten, wie die Auslastung besser gesteuert und verteilt werden kann. Durch die teilweise Übernahme von Arbeiten, die nicht zu den eigentlichen Aufgaben gehörten, wurden viele Bottlenecks entschärft.

Am wichtigsten war es jedoch, darauf zu achten, dass erst etwas erledigt sein musste, bevor neue Arbeit in das System kam. Durch Wartelisten für Kunden und andere Maßnahmen konnte der Druck, neue Arbeit ins System zu bringen, gebremst werden, so dass mit weniger Arbeit im System mehr Wert für den Kunden geliefert werden konnte.

Initiative Zukunftsfähigkeit: Die Arbeitswelt im Wandel

Die Automobilindustrie ist eine der dynamischsten Branchen. Doch technische Entwicklung allein ist für ein Unternehmen nicht alles. Unsere Arbeitswelt befindet sich in einem stetigen Wandel: Schlagworte wie Digitalisierung, Globalisierung, Komplexität und Disruption bewegen uns zunehmend und bringen Unternehmen an die Grenzen ihrer bestehenden Strukturen. Herausforderungen durch Generationswechsel, mangelnde Kundenorientierung, Personalmangel, fehlende Fokussierung, hohe Arbeitsbelastung, Nutzung von Mitarbeiterpotenzialen und vieles mehr wollen gelöst werden.
Unternehmensstrukturen und bewährte Managementmethoden müssen sich daher anpassen. Systemische Optimierungen, die der Leistungsfähigkeit des Unternehmens dienen, sind ohne Werkzeuge wie Transparenz und strukturierte Kommunikation nicht intuitiv und scheitern häufig. Viele Veränderungsprojekte scheitern auch daran, dass die Unternehmenskultur nicht berücksichtigt wird. Hier ist ein Perspektivwechsel angebracht, denn Unternehmen leben durch ihre Mitarbeiter. Sie in die Verantwortung zu nehmen, ihnen geeignete Strukturen zu geben und ihre Innovationskraft voll zu entfalten, damit sie sich eigenverantwortlich in Teams im Sinne des Unternehmens einbringen können, ist eine Kunst. Die Initiative Zukunftsfähigkeit macht diese Problematik besprechbar und zeigt Handlungsoptionen für moderne Manager auf.

Zur Initiative Zukunftsfähigkeit

Wie wirkt sich das auf die Arbeitsbelastung und die Zufriedenheit der Beschäftigten aus?

Die Mitarbeiter sind viel weniger gestresst, weil sie nicht mehr so viele Aufgaben gleichzeitig erledigen müssen. Sie haben jetzt den Überblick über den Prozess und können endlich eigene Ideen einbringen. Sie haben ihre Arbeit wieder selbst in der Hand! Dieses Gefühl ist wirklich nicht zu unterschätzen und hat auch viel mit Wertschätzung und Stolz auf die eigene Arbeit zu tun.

Gleichzeitig liefert die Firma mehr an die Kunden. Produkte werden schneller fertig, was sich beispielsweise in früheren Zahlungen niederschlägt. Für alle Kunden ist die Lieferzeit vorhersehbar. Außerdem werden Taskwechselzeiten eingespart. Es wird früher geliefert, als wenn alles parallel laufen würde. Das würde, ohne Transparenz und Messung, unglaubwürdig klingen – aber es ist wirklich so. Unternehmen und Mitarbeitende bekommen ein gemeinsames Gefühl für sinnvolle, systemische Optimierung und können an einem Strang ziehen. Wer einmal die Kraft einer solchen Organisation gespürt hat, will nicht mehr zurück.

Was ist die Empfehlung für Elektronikentwickler, um zu liefern?

Meine Empfehlung an die Entwickler: Nehmen Sie sich Zeit, um zu hinterfragen, wie gearbeitet wird. Kanban und andere Tools helfen bei der Transparenz. Bauen Sie einen Regelkreis auf. Machen Sie Ihre Leistung mit Kanban messbar, führen Sie gezielte Veränderungen durch und verfolgen Sie die Auswirkungen über die Zeit und steuern Sie nach.

Das mit dem Regelkreis klingt schlüssig – warum wird es nicht genauso umgesetzt?

Im eigenen Saft fällt das sehr schwer. Entwickler kennen ihr Geschäft, Veränderung ist etwas Neues. Die Kultur eines Unternehmens ist häufig auch recht widerwillig und schluckt Veränderungsimpulse. Ein externer Begleiter dieser Reise, der auch das Wissen um die systemische Optimierung mitbringt und viele Fragen stellt, ist teilweise hilfreicher als die beste Selbstdiagnose. Viele systemisch richtige Optimierungen sind leider (ohne Transparenz) nicht intuitiv und erfordern Mut.

Es ist kein Hexenwerk, sich auf das Liefern zu konzentrieren. Aber es bedeutet Arbeit, die richtige Führung und die richtige Erfahrung mit Veränderungen, um das Rad nicht neu zu erfinden. Der gesamte Prozess wird als agile Transformation bezeichnet.

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