Interview mit Joe Barry, Analog Devices „Open-RAN wird sich spätestens mit 6G durchsetzen“

Von Michael Eckstein 9 min Lesedauer

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Im Gespräch mit ELEKTRONIKPRAXIS erklärt Joe Barry*, Vice President der Systems & Technology, Communications Business Unit von Analog Devices, welche Hürden beim Entwickeln effizienter Mobilfunksysteme zu nehmen sind – und wann mit einem breiten Einsatz der O-RAN-Technik zu rechnen ist.

Analog Devices ist Spezialist für die Entwicklung und Integration von Mixed-Signal-Komponenten und Multi-Chip-System-in-Packages.
Analog Devices ist Spezialist für die Entwicklung und Integration von Mixed-Signal-Komponenten und Multi-Chip-System-in-Packages.
(Bild: Analog Devices)

Mobile Telekommunikation ist für rund 1,6 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Rund 75 Prozent davon gehen auf das Konto der Funksysteme. Damit nicht genug: In den nächsten Jahre soll die Energieaufnahme wegen rasant steigenden übertragenen Datenmengen um 160 Prozent zunehmen. Mixed-Signal-Spezialist Analog Devices arbeitet in seinem ADI Catalyst, einem im März 2022 eröffneten Kollaborationszentrum im irischen Limerick, gemeinsam mit seinen Kunden wie Vodafone daran, die Komplexität von Funksystemen zu verringern und gleichzeitig die Energieeffizienz deutlich zu verbessern. Im Fokus steht dabei unter anderem die Technik Open Radio Access Network, kurz Open-RAN oder auch O-RAN. Darüber hat ELEKTRONIKPRAXIS mit Joe Barry gesprochen, dem Vice President der Systems & Technology, Communications Business Unit von Analog Devices.

Herr Barry, über O-RAN wird seit vielen Jahren geredet, aber es passiert wenig. Oder täuscht der Eindruck?

Der Eindruck täuscht. Tatsächlich bewegt sich viel in diesem Bereich. Die Technik befindet sich im Hype-Cycle bereits in der Phase der praktischen Umsetzung. Bis vor kurzem haben wir hauptsächlich Green-Field-Anwendungen gesehen. Jetzt erleben wir eine Dynamik hin zu Brown-Field-Netzen. Sprich: Betreiber rüsten bestehende Netze mit der Technik nach. Wir haben im Vorfeld über Vodafone gesprochen, die die Technik mit viel Engagement vorantreiben. Aber wir sehen auch viel Bewegung in Indien, zum Beispiel bei BSNL India, einem staatlich organisierten Mobilfunknetzbetreiber, der den Einsatz in größerem Umfang plant. Auch in den USA gewinnt das Thema langsam an Fahrt. Traditionelle und neue Anbieter setzen auf O-RAN. Das trägt dazu bei, einige noch bestehende Hindernisse für die Einführung zu beseitigen.

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Welche Hindernisse sind das?

Oft sind es mentale Hürden. Das von proprietären Entwicklungen gewohnte Black-Box-Denken bringt uns hier nicht weiter. Da O-RAN ein offenes System ist, erfordert es eine andere Mentalität der Menschen, die sich engagieren und zusammenarbeiten. Dabei gibt es eine übergreifende Zielsetzung.

Die wäre?

Die größte Herausforderung für die Betreiber besteht darin, die Effizienz ihrer Netze zu steigern, den Stromverbrauch zu senken. Wussten Sie, dass die mobile Telekommunikation für rund 1,6 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs verantwortlich ist? Ein Großteil davon, rund drei Viertel, geht auf das Konto der Funkeinheiten. Darüber hinaus geht es darum, die sehr teuren Frequenzen optimal zu nutzen und zu vermarkten. Um dies zu erreichen, suchen Provider nach neuen Wegen, um mehr Innovation zu schaffen, etwa für das Einführen neuer Dienste.

Was sind denn die größten Herausforderungen für Funksysteme, besonders mit Blick auf O-RAN?

Der Aspekt der Nachhaltigkeit eines Netzes ist entscheidend. Wie können wir den Energieverbrauch senken? Die Komplexität ist enorm, etwa weil es so viele verschiedene Funksysteme, Frequenzbänder, Formfaktoren und noch viele andere Anforderungen gibt. Was O-RAN betrifft: Es macht die Hardware nicht unbedingt komplexer. Das Entwickeln von Funksystemen ist traditionell ein langer Validierungs- und Testprozess. Wenn man fünf Jahre zurückgeht, wurden vielleicht 15 bis 20 Arten von Mobilfunkeinheiten gebaut. Jetzt sind es 300 bis 400. Wir arbeiten daran, den Entwurfsprozess dieser Systeme zu vereinfachen. Wir haben viel Arbeit in softwaredefinierte Funkeinheiten gesteckt. Die Software ist so konzipiert, dass sie für verschiedene Anwendungsfälle skalierbar ist.

Und wie lässt sich der Stromverbrauch von Mobilfunkausrüstungen weiter verringern?

Die Funkeinheiten sind wie gesagt für einen Großteil des Stromverbrauchs verantwortlich. Wenn man allerdings isoliert nur auf diese Systeme schaut und mit den hier verfügbaren und erfassbaren Informationen durch Iterationen versucht, den Verbrauch zu senken, wird man nur begrenzten Erfolg haben. Hier ist Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren gefragt. Ein Beispiel: Wenn uns als Komponenten- und Systementwickler Informationen vorhersehbar und übergreifend ein weitreichendes Verständnis für den zu empfangenden und zu sendenden Datenverkehr geben, dann eröffnet dies ganz neue Möglichkeiten für die Optimierung des Stromverbrauchs.

Basieren diese Optimierungen hauptsächlich auf Software?

Ja. Aber es braucht eine Hardware, die flexibel genug ist. Ein einfaches Beispiel: Funksystem sind in der Regel nicht permanent in Betrieb. Mal ist das System einige Millisekunden aktiv, mal nur wenige Nanosekunden. Man muss also einen Weg finden, das System effizient und elegant sehr schnell ein- und ausschalten zu können. Oder: Lässt sich je nach Datenaufkommen intelligent entscheiden, wie man die Daten und den Stromverbrauch verwaltet? Wenn ich die ganze Zeit mit voller Leistung arbeite, gibt es nur eine gewisse Effizienzlücke, die sich nutzen lässt. Wenn man hingegen zeitgesteuert mit weniger Leistung arbeite, kann ich auf der Leistungsverstärkerebene einiges tun, um eine höhere Effizienz zu erreichen. Hier gibt es eine Menge Innovationen, die intelligente Ansätze verfolgen.

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„Ich erwarte die Einführung von 6G ab 2030. O-RAN wird von Tag eins an mit dabei sein.“ Joe Barry, Vice President der Systems & Technology, Communications Business Unit von ADI.
„Ich erwarte die Einführung von 6G ab 2030. O-RAN wird von Tag eins an mit dabei sein.“ Joe Barry, Vice President der Systems & Technology, Communications Business Unit von ADI.
(Bild: Cormac Byrne Photography)

Und noch etwas: 5G ist im Vergleich zu 4G acht- bis zehnmal effizienter pro übertragenem Bit. Es sind jetzt mehr Schichten beteiligt, die die Technik immer effizienter machen. Damit nicht genug: Die Effizienz wird sich mit jeder Iteration des Standards verbessern. Dies ist eine Motivation für Betreiber, insbesondere 3G- und 4G-Equipment zu ersetzen, weil die Betriebskosten der Geräte mit der Zeit steigen.

Stichwort Intelligenz: Ist der Einsatz von KI in den Funkeinheiten denkbar und auch sinnvoll?

Auf jeden Fall. Ich sehe zwei Bereiche, die wichtig sind. Erstens: Wie kann KI und ML bei der Entwicklung von besseren Produkten helfen? Zweitens: Wie lassen sich Funksysteme intelligenter betreiben? Hier geht es auch um die Auswirkungen auf die Industrie im Allgemeinen. Wenn man sich anschaut, wie wir einen Chip entwerfen, wie wir die Architektur entwickeln, wie wir Software schreiben, dann spielt KI sicherlich eine Rolle – etwa, um effizienter zu werden. Ingenieure haben dann mehr Zeit, Innovationen und damit größeren Mehrwert zu schaffen. Wir haben Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen zum Beispiel eingesetzt, um zu verstehen, wie man einen Leistungsverstärker in Bezug auf die Effizienz linearisiert. So konnten wir diese um 10 bis 15 Prozent steigern. Das hört sich nicht nach viel an. Aber bei Systemen, die etliche Kilowatt an Leistung verbrauchen, ist das eine Menge Energie, die sich einsparen lässt.

Erfolgt diese Optimierung als ein kontinuierlicher Prozess auf dem Chip?

Ja. Hardware lässt sich so bauen, dass sie kompensieren und linearisieren kann. Aber man hat nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung. KI hilft hier, bestmögliche Hardware-Konfigurationen für verschiedene Anwendungen zu finden. Ohne KI ist es ein steiniger Weg, das herauszufinden. Wenn ein Chip aktiv in einem System arbeitet, gibt es Temperaturschwankungen, Alterung und andere Effekte. Wir suchen hier mithilfe von KI nach einer Möglichkeit, diesen Effekten entgegenzuwirken, praktisch eine weitere Steuerungsebene einzuziehen. Darüber hinaus arbeitet mein Team an der Entwicklung von mehrphasigen Stromversorgungslösungen für Cloud-Rechenzentren und Server. Ein überaus komplexes Gebiet. Wegen der parasitären Effekte und der enormen Komplexität ist es sehr zeitaufwändig, ein Design zu optimieren. Aus diesem Grund haben wir eine Technik namens Power AI entwickelt. Sie nimmt das System, führt eine Analyse durch und zeigt Wege zur Optimierung des Systems auf. Power AI reduziert den Entwurfsaufwand drastisch und vereinfacht den Entwurf einer Stromversorgungslösung erheblich.

Welche Rolle spielen Referenzdesigns heute bei der Entwicklung von Mobilfunklösungen?

Referenzdesigns beschleunigen die Entwicklungszeit dramatisch. Wenn man ein Ökosystem aufbaut, O-RAN einführt und neue Anbieter versuchen, Hardware zu entwickeln, haben sie nicht die gleichen Fähigkeiten und verfügen über ein anderes Maß an Erfahrung. Referenzdesigns machen es ihnen leicht, mit der Entwicklung eines Produkts zu beginnen. Auf der anderen Seite nutzen etablierte Kunden Referenzdesigns, um ihre Entwicklungen zu testen und zu beschleunigen. Das ist auch für uns wichtig. Im Zuge unseres Geschäftsmodells berechnen wir Hardware und Software. Die Bereitstellung einer Plattform zur Demonstration der Software und zur Abrechnung ist gewissermaßen ein Teil davon.

Partnerschaftliche Zusammenarbeit

Der ADI Catalyst Collaboration Hub

Der ADI Catalyst ist ein Kollaborationszentrum für Kunden, die schneller auf den Markt kommen, effizienter Umsatz generieren und ihr Ökosystem stärken und weiterentwickeln möchten. Catalyst ist eine Forschungs- und Entwicklungsumgebung, deren Schwerpunkt auf der Bildung engerer Kooperationspartnerschaften, dem Austausch von Ideen, der Schaffung von Living Labs und der Entwicklung bahnbrechender Lösungen liegt. Dieses Kollaborationszentrum läutet nach Angaben von Analog Devices eine neue Ära der Geschwindigkeit und Zusammenarbeit ein, indem es einen echten Partnerschaftsansatz verfolgt, um Kunden bei der Lösung ihrer schwierigsten Herausforderungen zu unterstützen.

ADI verfolgt mit seinem Catalyst Collaboration Hub einen nach eigenen Angaben partnerschaftlichen Ansatz der Zusammenarbeit mit seinen Kunden und anderen Akteuren, etwa universitären Einrichtungen.
(Bildquelle: Analog Devices)

Laut ADI sind Kooperationen und Experten-Ökosysteme der Schlüssel zum Erfolg in der komplexen Technologiewelt von heute. Der Konzern ist überzeugt, dass Partner innerhalb dieses Collaboration Hubs gemeinsam bahnbrechende Technologien und Lösungen in einem beschleunigten Tempo entwickeln und Durchbrüche in einer Vielzahl von Branchen erzielen können – von der Automobil- und Kommunikationsbranche bis hin zum digitalen Gesundheitswesen und der industriellen Automatisierung.

Wie geht ADI mit all diesen Herausforderungen um? Kommt hier auch der ADI Catalyst ins Spiel?

Ja. Wir haben erkannt, dass wir einen viel umfassenderen Blick auf das Ökosystem haben müssen, um optimale Produkte entwickeln zu können. Wir haben mit viel Aufwand Partnerschaften mit anderen Chipanbietern, Standardisierungsgremien, IP-Anbietern, Design-Häusern, Geräte-OEMs, Auftragsherstellern, mit Betreibern, Anbietern von Test- und Messgeräten und vielen anderen aufgebaut. Diese nutzen wir jetzt verstärkt.

Der Catalyst ist dabei mehr als ein physischer Raum. Es geht hier um die Investitionen in die Partnerschaften und darum, Gleichgesinnte zu finden und den Wert der Zusammenarbeit klar zu machen. Und davon können alle profitieren. Das ist die Voraussetzung für die Auflösung von Silo-Ökosystemen. Man muss mit einer anderen Denkweise an die Sache herangehen. Man muss verstehen, dass sich die Zusammenarbeit für alle lohnen muss. ADI ist ein sehr traditionsreiches Unternehmen, unsere Kultur ist sehr kollaborativ. Wir haben schon immer sehr gut mit unseren Kunden zusammengearbeitet. Wir haben nur mehr in die Ausweitung der Art und Weise investiert, wie wir Partnerschaften eingehen und mit wem wir zusammenarbeiten. Ich denke, dass es wirklich transformativ ist, wenn wir in der Lage sind, diese Problemstellungen anzunehmen und wirklich zu verstehen, wie wir sie angehen können. Denn, ehrlich gesagt, ADI kann die heutigen Herausforderungen nicht allein schaffen. Kein Unternehmen kann das. Die Probleme und Systeme sind so komplex. Wir alle müssen herausfinden, wo unser Sweet Spot ist, wo wir zusammenarbeiten können. Das war sowohl für ADI als auch für seine Kunden ein Lernprozess. In den letzten vier bis fünf Jahren haben wir uns wirklich weitergebildet und in unsere Mitarbeiter investiert. Denn Beziehungen brauchen viel Pflege und Zeit.

Werden sich die jetzt für 5G entwickelten Lösungen auch für 6G eignen?

6G befindet sich in einem frühen Stadium der Erforschung. Es besteht klar der Wunsch, dass 5G in Zukunft auf 6G aufrüstbar sein soll. Die Anbieter wollen nicht die gesamte 5G-Ausrüstung deinstallieren, um 6G zu implementieren. Ich denke, wir werden die ersten 6G-Installationen im Jahr 2030 sehen. Aber es gibt noch viel zu tun. Ich bin der Meinung, dass wir vom ersten Tag an O-RAN in 6G sehen werden. Heute sagen alle Anbieter, dass sie an O-RAN-Systemen arbeiten. Die Dynamik hat sich klar in diese Richtung verschoben. (me)

* Joe Barry ist Vice President der Systems & Technology, Communications Business Unit von Analog Devices – und ein Urgestein des Mixed-Signal-Spezialisten. Er ist seit fast 30 Jahren an Bord, hat vom Design Engineer über unterschiedliche Manager- und Director-Posten bis hin zum Vice President viele verantwortungsvolle Positionen ausgefüllt – die meisten davon im Bereich (Wireless) Communications.

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